Vier not­wendige Betrachtungs­ebenen zur kritischen Bestands­aufnahme

IV. Existenzialistische Ebene
(Menschen- und Weltbild betreffende sowie ethische Aspekte) oder:
Die unerträglich verlogene Hybris des von den USA völlig demokratisch dominierten „wertebasierten Westens“: Der Zweck heiligt eben doch die Mittel – solange sie nur von den Guten eingesetzt werden

Wird just an dieser Stelle der Bestandsaufnahme – falls die genannten und belegten Fakten nicht direkt abgewiesen oder geleugnet werden – dann mit der Behauptung einer System-Überlegenheit des Westens – also hinsichtlich eines Vergleichs der jeweils innen- oder gar auch außenpolitisch herrschenden Verhältnisse – im Sinne eines Vorrechts der ethisch, demokratisch oder humanistisch weiterentwickelten Seite argumentiert, um sich so über die unbestreitbare geopolitische Dynamik und Faktenlage (s. Teil III.) hinwegzusetzen, so offenbart dies eine in höchstem Maße irrationale, anmaßende und heuchlerische Sicht auf die Gesamtzusammenhänge.

Denn was verbirgt sich hinter einer Ethik, die sich im Ernstfall einer militärischen Konfrontation nicht daran stört, dass das werthaltigere System – diese Beurteilung sei für die Fragestellung einfach mal als zutreffend vorausgesetzt – den Kriegszustand gegen das unterlegene oder, kaum verhohlen in vielen Varianten ja auch schon zum Ausdruck gebracht, gegen das schlechtere oder gar böse System unbeirrt aufrechterhält? Und zwar so lange, bis Letzteres, so das erklärte Ziel nicht nur der deutschen Politik, bestenfalls ruiniert und dadurch seinen Kontrahenten faktisch schutzlos ausgeliefert ist? Was für eine Ethik ist das, die, anstatt mit Nachdruck diplomatische Bemühungen für einen Waffenstillstand, daran anknüpfende Friedensverhandlungen und eine Beendigung der Sanktionen anzustrengen, nahezu ausschließlich auf ihre vermeintliche militärische Überlegenheit setzt – um diese, allerdings nur im Falle eines tatsächlichen Sieges, auf einer ideologisierten Meta-Ebene à la „God‘s own Country“ möglicherweise sogar als „Beweis“ für das Dogma des eigenen Gutseins, der eigenen Überlegenheit, ja Unbesiegbarkeit zu missbrauchen? Wäre das nicht schlicht eine Moral des Stärkeren, dessen Gutsein und Rechtschaffenheit sich am Ende nurmehr aus dessen Fähigkeit ableitet oder darin beweist, über den Feind zu obsiegen?

Um die Zustimmung der Bevölkerung nicht zu verlieren, muss eine derart beschränkte Politik entweder behaupten, ihre strikte Haltung sei ausschließlich in der absoluten Weigerung der Gegenseite begründet, ernsthafte Verhandlungen aufzunehmen. Diese Einschätzung betreffend die russische Seite teile ich mitnichten; die gesamte hier beschriebene Vorgeschichte zu diesem Konflikt legt eine gänzlich andere Deutung nahe.

Alternativ kann nur noch proklamiert werden, man müsse vor Aufnahme von Verhandlungen zunächst bestimmte Kriegsziele erreichen, um sich gegenüber dem Gegner noch jene Vorteile zu verschaffen, die offenbar als nicht verhandelbar eingeschätzt werden, weshalb man auch bei dieser Argumentation den Fortgang des Krieges auf unbestimmte Dauer sowie mit ungewissem Ausgang eindeutig willentlich befördert. Allein diese Ausrichtung weist keinerlei ethische Prinzipien mehr auf. Zumindest dürfte folgendes Spiegelargument jedermann einleuchten: Verhalten sich beide Parteien gemäß obiger Ausrichtung, kann sich ein solcher Krieg praktisch endlos und zunehmend zerstörerisch hinziehen – zum allergrößten Schaden der im Kriegsgebiet Lebenden; dann wäre man um keinen Deut „besser“ als der systemisch oder moralisch angeblich unterlegene Antagonist. Ein ethisches Gebot sollte im Übrigen jedoch unabhängig von den Subjekten gelten, auf die es sich bezieht – also auch unabhängig vom jeweiligen anderen Subjekt.

Nun zu noch grundsätzlicheren Überlegungen, die m.E. unverzichtbare Elemente einer zukunftsfähigen Ethik zu umreißen versuchen: Die Beurteilung sowie der damit einhergehende, wertende Vergleich verschiedener politischer Systeme liegt auf einer fundamental anderen Betrachtungsebene als die Analyse objektiv feststellbarer militär- und geostrategischer Gegebenheiten und Konstellationen; eine wie auch immer motivierte Vermischung beider Sphären wird schlimmstenfalls dazu führen, dass man den Selbsterhaltungswillen und das daraus erwachsende vitale Selbstverteidigungsbedürfnis eines Antagonisten nicht als eine ihm a priori zustehende, nicht relativierbare Grundeigenschaft oder Grundberechtigung anerkennt, sondern diese von der eigenen Beurteilung des Wertes, oder kompromissloser: des Existenzrechts dieses Antagonisten nach zudem subjektiven und somit potenziell willkürlichen Kategorien und Kriterien abhängig macht. Dies aber wird, gerade aus einer auf Konkurrenz und Sieg ausgerichteten Weltsicht heraus, zur Folge haben, dass dem Gegner – in „milderer“ Form nur teilweise, im extremsten Fall auch gänzlich – die Legitimität der Sicherstellung seiner Selbsterhaltung aufgrund dessen diagnostizierter Unterlegenheit oder gar Minderwertigkeit abgesprochen wird.

Eine hoch ausgebildete Ethik zeigt sich hingegen gerade darin, jeden Menschen, und hier insbesondere den „Konkurrenten“, sei dieser eine Person, Gruppe, Nation oder ein Land, als einen lebendigen Organismus zu betrachten, der allein deshalb bereits – also völlig unabhängig von seinen sonstigen, Vererbung, Sozialisation und Selbstbestimmung unterliegenden Eigenschaften – über unveränderliche, da genetisch, biologisch und psychologisch determinierte Grundtriebe verfügt, zu denen notwendig der Selbsterhaltungstrieb zählt.

Da deren Existenz eigentlich nur anerkannt werden kann und sich eben deshalb jeder Bewertung oder Relativierung grundsätzlich entziehen sollte (welche, wenn doch vorgenommen, Subjekt und Objekt unabdinglich voneinander trennt, ja trennen muss), kann eine urteilende Instanz, die einem anderen durch ihre Entscheidungen und Handlungsweisen, aber auch ihre Proklamationen dessen Recht auf Selbsterhaltung beschneidet oder abspricht, weder als ethisch noch als human bezeichnet werden; tut sie es dennoch, so kommt dieses Verhalten, und zwar völlig unabhängig vom beurteilten Niveau des Antagonisten, einer Umkehrung des von jener Instanz behaupteten Sachverhalts gleich und ist damit zutiefst unaufrichtig.

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Avatar von Jan Veil
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