Vier not­wendige Betrachtungs­ebenen zur kritischen Bestands­aufnahme

Inhaltsverzeichnis:

Einleitung

I. Sanktionsebene
(funktional-operative Aspekte) oder:
Solidarisches Frieren und Hungern für die gerechte Sache: Die offen angestrebte Ruinierung Russlands

II. Bündnisebene
(Glaubwürdigkeits-, bündnisrelevante und ethnische Aspekte) oder:
Gemeinsame bilaterale Sache mit militanten Ultranationalisten und russischsprachige bzw. stämmige Ukrainer/innen verachtende Neofaschisten: Die Verteidigung der „westlichen Werte“ in der Ost- und Südukraine

III. Historische Ebene
(geopolitische und geschichtliche Ursachen betreffende Aspekte) oder:
Heuchlerisch-moralinsaure „Querfront“-Geschichtsvergessenheit: Wenn systemrechte Alt-Feind- und systemlinke Neu-Feindbilder unserer politischen Klasse also absolut kein Problem mehr miteinander haben und Russland nahezu einhellig – erneut – zum Erzfeind erklärt wird

IV. Existenzialistische Ebene
(Menschen- und Weltbild betreffende sowie ethische Aspekte) oder:
Die unerträglich verlogene Hybris des von den USA völlig demokratisch dominierten „wertebasierten Westens“: Der Zweck heiligt eben doch die Mittel – solange sie nur von den Guten eingesetzt werden

Fazit


Gegenwärtige deutsche bzw. westliche Russland- und Ukraine-Politik:
Vier notwendige Betrachtungs­ebenen zur kritischen Bestands­aufnahme

Von Jan Veil, veröffentlicht am: 28. Februar 2023

Der russische Präsident Wladimir Putin bei einem Treffen mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz im Kreml in Moskau, 15.02.2022 (Foto: kremlin.ru / Wikimedia Commons / CC BY 4.0)

Einleitung

Nur eines setzt der folgende Text im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg grundsätzlich voraus: das Wissen um die oder wenigstens die Ahnung von der nicht zu leugnenden Gefahr einer – allmählich oder plötzlich – neue Ebenen erreichenden Eskalation, die immer mehr Länder aktiv involvieren oder zum Einsatz immer zerstörerischerer Waffengattungen führen könnte. Als zudem halbwegs nüchterner Zeitgenosse, ausgestattet mit einem gewissen Hang zu Konfliktlösungen oder, bescheidener, zu Schadensbegrenzungen, ist man in dieser Zeit der Gegenaufklärung daher unausgesetzt mit folgenden Fragestellungen konfrontiert:

Wieso arbeiten – und arbeiteten – die in unserem Land politisch Verantwortlichen nicht unter Hochdruck:
a) an einem Konzept vorläufiger gegenseitiger Bedingungen für einen Waffenstillstand in der Ukraine, der zumindest potenziell auch Aussicht auf Erfolg hat, anstatt sich lediglich an den Maximalforderungen eines Selenskyjs oder Bidens auszurichten – und zwar bevor sich die Kampfhandlungen auf andere Territorien auszuweiten, die Situation dadurch zu verkomplizieren und um ein weiteres Stück irreversibler zu machen droh(t)en;
b) – darauf fußend – an Richtlinien für eine adäquate Sondierung zur Aufnahme ernsthafter Verhandlungen über tragfähige Friedensbedingungen (wobei diese Richtlinien unbedingt die Option umfassen sollten, bei begründetem Verdacht auf fanatisches Festhalten an nationalistischen und somit gegen ethnische Minderheiten gerichteten Positionen insbesondere bei den eigenen Bündnispartnern auch zu diesen wieder mehr Distanz herstellen zu können)?

Dies wäre unter dem Primat der Eskalationsverhinderung der einzige Weg, auf dem möglichst rasch und verlässlich eine Beendigung oder wenigstens ein Einfrieren des Krieges erreicht werden könnte, um endlich wieder auf die Verhandlungsebene zurückzugelangen; diese dürfte sich zwar äußerst komplex und langwierig gestalten, würde aber nicht länger massenhaft zu Toten, Verletzten, Vertriebenen und Traumatisierten führen.

Die nahezu vollständig eingetretene Weigerung der Ampelregierung, genau diese Fragen auch nur anzugehen geschweige denn ernsthaft zu beantworten, ist Ausdruck und Maß für die bereits seit etlichen Jahren zunehmend herrschende, gesamtgesellschaftliche Paradoxie, die die ohnehin schon existierende kognitive Dissonanz im kollektiven Bewusstsein der Bevölkerung weiter befördert. Um dieser Paradoxie begegnen zu können, deren tiefere Ursachen immer öfter bloß neue Formen und Ausmaße einer ungestümen Destruktivität hervorbringen, ist es zunächst wichtig, Folgendes zu verstehen – oder wenigstens nicht von vornherein auszuschließen: So gut wie alle Gründe, die bisher – mehr oder weniger offen – gegen eine Beschäftigung mit diesen Fragen ins Feld geführt worden sind, beruhen auf einer zuweilen bis ins Psychopathische verzerrten Realitäts-, Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie einer zutiefst pervertierten, verlogenen und daher inhumanen „Ethik“ unserer politischen „Eliten“ und ihrer medialen Verlautbarungsorgane.

Jacques Baud, ein ehemaliger Geheimdienstoffizier der Schweizer Armee, strategischer Analyst und Buchautor mit den Schwerpunkten Geheimdienst und Terrorismus, der in seiner Laufbahn einige internationale Positionen bekleidete, „darunter auch bei der NATO, wo er den Fluss von Kleinwaffen im Donbass überwachte und an einem NATO-Programm zur Unterstützung der ukrainischen Streitkräfte bei der Wiederherstellung ihrer Kapazitäten und der Verbesserung der Personalverwaltung beteiligt war“, drückt dies moderater aus, was jedoch am Phänomen der Realitätsverweigerung via Projektion nichts ändert: „Im Jahr 2014, während der Maidan-Revolution in Kiew, war ich bei der NATO in Brüssel. Mir ist aufgefallen, dass die Menschen die Situation nicht so einschätzen, wie sie ist, sondern wie sie sie sich wünschen. … In der Tat stellte sich für mich heraus, dass niemand in der NATO das geringste Interesse an der Ukraine hat. Wir neigen dazu, den Feind so darzustellen, wie wir ihn uns wünschen, und nicht so, wie er tatsächlich ist. Das ist das ultimative Rezept zum Scheitern.“ *] Mehr dazu vor allem in Teil IV.

Quelle

Gesetze ganz einfach, „Jacques Baud: Interview zum Militärkonflikt in der Ukraine“, am 01.05.22, <https://gesetze-ganz-einfach.de/jacques-baud-interview-zum-militaerkonflikt-in-der-ukraine/>

Um diesen Komplex zumindest ansatzweise zu entwirren, möchte ich in einer – zugegeben notwendigerweise unvollständigen – Art von Bestandsaufnahme auf vier recht klar unterscheidbaren Ebenen Agenden, Ursachen, Wirkungen, Beschlüsse, An- und Aufkündigungen, Tatsachen, Erklärungen, Lügen, Verleumdungen, Massenmanipulation, Partikular-interessen, Anmaßungen, Vorurteile, totalitäres Gedankengut, Ereignisse, offene und verdeckte Aktionen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Feindbilder und Ängste möglichst systematisch auflisten und miteinander in Beziehung setzen; diese Methodik soll nicht nur immer klarer werdende, verknüpfende Zusammenhänge jener Ebenen herausarbeiten; sie soll bestenfalls ferner Überlegungen zu dem erwähnten Paradoxon anregen:

Warum wurden die eingangs aufgeführten Fragen, und zwar für jedermann hör- und nachvollziehbar, bisher nie wirklich, d.h. nie mit der eigentlich angemessenen medialen und politischen Durchschlagskraft gestellt – und allein schon deshalb auch nie tatsächlich beantwortet?

Maidan im Sommer 2014. Auf dem Platz kam es zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizeieinheiten. Scharfschützen schossen sowohl auf Demonstranten als auch auf Polizisten. (Foto: roman-gp / deviantart / CC BY-NC-SA 3.0)

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